Die optimale analoge Nikon-Ai/AiS-Ausrüstung - Teil 10: Nikkor 28mm/3.5 Ai
Warum schon wieder ein Weitwinkelobjektiv auf troeszter.net vorgestellt wird? Ich mag 50mm-Objektive bei Kleinbildkameras nicht besonders. Provokant formuliert sind diese sogenannten Normalobjektive etwas für Leute, die nicht wissen ob sie ein Weitwinkel- oder ein Teleobjektiv verwenden möchten. Der Bildwinkel von 47° ist fast immer zu viel für Portraits oder Detailaufnahmen und fast immer zu wenig für Personengruppen oder Übersichtsaufnahmen. Der klassischen Regel von der Bilddiagonale als Richtwert für die Normalbrennweite entspricht eine 50mm-Brennweite auch nicht. Von den 43,3mm Kleinbilddiagonale beim 24x36-Kleinbildformat liegt sie recht weit weg. Warum also der Hokuspokus mit den 50mm-Normalobjektiven? In historischer Zeit hat sich bei dieser Brennweite überschaubarer technischer Aufwand mit guter Abbildungsleistung kombinieren lassen. Und die Konsumenten haben, manchmal aus Mangel an Alternativen, die Objektive gekauft. Die Leica gilt als Ursprung des 50er-Normalobjektivs und bei der Firma Leitz hat man die 50mm durchaus als Kompromiss gesehen, wenn es darum ging nur eine einzige Brennweite an der Kamera zur Verfügung zu haben. Das 50er-Elmar der ersten Leica war passabel für Portraits und Übersichten, passabel für Personengruppen, wenn man weit genug Abstand gehalten hat und sehr bedingt auch für Landschaften und Übersichten einsetzbar.

„Passabel" und „bedingt" sind die Eigenschaften, welche damals für diese Einsatzbereiche gegolten haben und für mich sind sie es bis heute. Unser Blickfeld ist wesentlich breiter als 47°, denn Menschen sehen dreidimensional um Entfernungen gut einschätzen zu können und punktzentriert um interessante Objekte zu erkennen. Unsere beweglichen Augen und das Drehen des Kopfes ergeben zusätzlich ein Blickfeld wie ein Superweitwinkelobjektiv. In der Zeit als Jäger und Sammler war das, neben flinken Beinen, die Voraussetzung um nicht als Mahlzeit im Magen eines Carnivoren zu enden, sondern ihm rechtzeitig aus dem Weg gehen zu können. Oder noch besser dem Carnivoren eins auf den Deckel zu geben und ihn als nächste Mahlzeit nach Hause zu schleppen, denn für die Jagd waren oder sind unsere "Weitwinkelaugen" und der 3D-Blick ein unschätzbarer Vorteil. 47 oder 50 Grad Bildwinkel sind also nicht genug und deshalb sehen wir im weiten Winkel. Allein die gefällige Perspektive zweidimensionaler Bilder ist ein Argument für ein 50mm-Normalobjektiv, weil sie bei der Betrachtung eines Fotos als einziger Parameter für so ein Objektiv spricht. Nach diesen Betrachtungen dürfte wohl klar sein, warum das 28mm/3.5 Ai zum Normalobjektiv an meinen Nikon-Ai-Kameras geworden ist. Der Bildwinkel gefällt mir und die Kamera bleibt samt Objektiv schön klein und leicht.

Was die Perspektive oder einen typischen Weitwinkel-Look betrifft verweise ich auf die Testaufnahmen. Natürlich kann man das Weitwinkel erkennen, natürlich ist es anfällig auf stürzende Linien und natürlich ergibt sich eine Menge Laufarbeit, bis man den passenden Bildaufbau gefunden hat, bei dem man erst auf den zweiten Blick das Weitwinkel erkennen kann. Und ja, man kann nicht einmal geringste Entfernungen mit einem 28er überbrücken, weil das Kleinbildformat nur geringe Ausschnittvergrößerungen erlaubt. Schnelle Reaktion, zum Beispiel bei Straßenfotografie, funktioniert mit einer Brennweite von 28mm aber recht gut. Arbeiten mit Zonenfokus ist möglich, vorzugsweise mit einem 400-ISO-Film und den daraus resultierenden kleinen Blenden bei Tageslicht. Mit einem Weitwinkel als Standardobjektiv ist man ist man immer mittendrin, statt nur nebenan. „You can´t get close enough", lautete einst beim Life-Magazine die Devise für lebendige Aufnahmen und daran hält man sich am besten mit diesem Objektiv. Sonst gibt es Bilder mit kleinen Hauptmotiven und sehr viel Rundherum.

Das Nikkor 28mm/3.5 Ai war seinerzeit das Low-Cost 28er-Weitwinkel von Nikon. Nur das optisch schlechtere Series-E 28mm war noch günstiger, während die 2.8er-Version um satte 30% mehr gekostet hat. Das 28mm/3.5 Ai stammt aus dem Produktprogramm Ende der 1970er, also einer Zeit, in der Nikon beim Material nicht gespart hat. Eine geringere Lichtstärke hat damals bei einem Nikkor-Objektiv weder eine schlechtere Verarbeitung noch eine geringere Abbildungsleistung im Vergleich zu den schnelleren Objektiven bedeutet. Das von vielen bevorzugte Nikkor 28mm/2.8 ist zwar kaum größer oder schwerer aber auch heute noch um einiges teurer und gerade eine 1/2 Blendenstufe lichtstärker als das f3.5-Objektiv. Für Available-Light-Aufnahmen sind daher beide Objektive nicht ganz optimal. Die f3.5-Version noch weniger als das f2.8-Objektiv und wer sich ganz der Available-Light-Technik verschrieben hat, der sollte sich ein 28er mit Lichtstärke 2.0 oder 1.4 mit einem entsprechenden Preis zulegen. Für alle anderen reicht das preisgünstige aber sehr gute Nikkor 28mm mit Lichtstärke f3.5 im Großen und Ganzen aus.

Optisch ist das 28mm/3.5 bereits bei offener Blende tadellos. Es ist dann, wie alle anderen Objektive auch, noch nicht ganz perfekt, denn das Abblenden auf f4.0 oder f5.6 steigert die Abbildungsleistung ein wenig. Als Idealbereich gilt für mich f5.6 bis f11. Bei diesem Objektiv braucht man sich um die verwendete Blende und die damit verbundene Abbildungsleistung kaum Gedanken zu machen. Man wählt jene Blende, die man braucht und die Bildqualität stimmt, allerdings mit der Einschränkung, dass ich Blende 22 auf Grund von Beugungsunschärfe so wenig wie möglich wähle. Vignettierung, also Abdunkelung an den Bildrändern, tritt nur bei geöffneter Blende und dann in sehr geringem Umfang auf. Ab Blende 5.6 ist sie verschwunden. Chromatische Aberrationen in Form von Farbsäumen treten bei meinem Objektiv nur sehr schwach auf. Auf Film sind sie kaum wahrnehmbar. Eine geringfügige Bildfeldwölbung ist vorhanden und man sieht sie, wenn man eine Ziegelmauer oder ein Gemälde abfotografiert, sonst ist sie eher bedeutungslos. Die Nikon-typischen sieben Blendenlamellen bedeuten ausgehend von punktförmigen Lichtquellen einen vierzehnstrahligen Sonnenstern. Geisterbilder sind mir beim Nikkor 28mm/3.5 Ai bisher noch nie aufgefallen. Gegenlicht oder Licht von schräg vorne bringen es üblicherweise nicht aus der Ruhe und es ist fast egal, ob man eine Streulichtblende verwendet oder nicht. Nur gibt es die HN-2 gebraucht oder als Nachbau für ein paar Euro und daher auch keinen Grund auf eine Streulichtblende zu verzichten. Sicher ist sicher. Noch ein Tipp, falls man keine HN-2 hat: Die HN-3 Streulichtblende gehört eigentlich zu den Objektiven mit 35mm Brennweite, ich kann sie allerdings ohne Einschränkungen auf dem 28mm-Objektiv verwenden. Die Bilder links zeigen oben die originale Nikon HN-2 und unten die Nikon HN-3 Streulichtblende.

Ich habe eingangs bereits erwähnt, dass das Nikkor 28mm/3.5 aus der goldenen Ära des Nikon-Objektivbaus stammt. Damals wurde ein Objektiv aus Metall und Glas für eine lange Einsatzdauer gebaut, wie sich das so gehört. Mein vor vielen Jahren gebraucht gekauftes 28mm/3.5 stammt von Anfang der 1980er, wurde ausgiebig genutzt aber immer gepflegt und funktioniert daher nach wie vor wie vorgesehen. Es ist ein Vergnügen die Blende zu verändern, weil der Blendenring so schön satt rastet. Da kratzt, rupft oder ruckelt nichts. Der mechanische Aufbau dieses Objektivs kommt weitgehend ohne Schmiermittel aus. Daher bestehen kaum Chancen, dass Öl oder Fett ins Innere des Objektivs eindringt. Ölrückstände auf den Blendenlamellen gibt es bei meinem Objektiv demnach überhaupt keine und weil die Mechanik exakt gearbeitet ist, läuft die Entfernungseinstellung auch ohne Schmierpampe seidig und nach Jahrzehnten völlig ohne jedes Spiel.

Vom Nikkor 28mm/3.5 gibt es eine vor-Ai-Serie mit einem geringfügig anders ausgelegten sechslinsigen System, welche mit dem Ai-Kit 27 (oder 28?) nachgerüstet werden konnte. Bei Recherchen im Internet habe ich mehrmals Hinweise gefunden, dass diese von 1975 bis 1977 gebaute Version optisch nicht ganz das Niveau der „echten" Ai-Version erreichen soll ohne dabei aber schlechte Leistungen zu erbringen. Überprüft habe ich das aber nicht. Wer beim Kauf eines Nikkor 28mm/3.5 auf Nummer sicher gehen möchte ein authentisches Ai-Objektiv zu bekommen, sollte sich die Seriennummer ansehen. Sie muß im Bereich 1760xxx bis 1954xxx liegen. Von den etwa 194.000 produzierten Objektiven ist noch immer eine ganze Menge im Umlauf und ein schönes Exemplar sollte relativ problemlos aufzutreiben sein.

Fazit:
Wenn man den weiten Bildwinkel als Normalobjektiv mag und auf eine hohe Anfangslichtstärke verzichtet, ist das Nikkor 28mm/3.5 Ai ein Allroundobjektiv, wie man sich das wünscht. Gravierende Schwächen sucht man vergeblich und wer das optische Erbsenzählen sein lassen kann, bekommt ein Objektiv, mit dem man unbeschwert fotografieren kann. Auch der Preis am Gebrauchtmarkt stimmt meistens und ab etwa hundert Euro gibt es ein schönes und einwandfreies Exemplar.

Pro:

- optisch bereits bei offener Blende sehr gut

- Abbildungsleistung nahezu perfekt

- Verarbeitung mit dem üblichen hohen Nikon Ai/AiS-Standard

- moderate Preise auf dem Gebrauchtmarkt



Kontra:

- nichts